Das BSG hatte am 13. Dezember 2016 über die bislang umstrittene Frage zu entscheiden, ob die Grundsätze über einen Off-Label-Use auch im Rahmen (teil-)stationärer Behandlung Anwendung finden.
1. Bisherige Rechtslage
Das LSG Berlin-Brandenburg hatte bspw. in seiner Entscheidung vom 18. März 2010, Az. L 9 KR 280/08, die Auffassung vertreten, dass die Grundsätze des Off-Label-Use nur für vertragsärztliche Behandlungen anzuwenden seien und im Rahmen stationärer Behandlung allein der Maßstab des § 137 c SGB V gelte. Mithin forderte das LSG Berlin-Brandenburg nur die Wahrung des Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebots für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln im Krankenhaus.
Die Krankenkassen hatten demgegenüber auch für Krankenhausbehandlungen stets verlangt, dass die Voraussetzungen eines Off-Label-Use vorliegen. Diese lauten nach der ständigen Rechtsprechung des BSG wie folgt:
- Es muss um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung gehen.
- Es darf keine andere (zugelassene) Therapie verfügbar sein.
- Aufgrund der Datenlage muss die begründete Aussicht bestehen, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder
a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt wurde und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht wurden und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder
b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht wurden, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Die Qualität dieser Erkenntnisse muss nach Auffassung des BSG derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels entsprechen (vgl. BSG vom 28. Februar 2008, Az. B 1 KR 15/07 R).
Diese Anforderungen an einen Off-Label-Use sind deutlich strenger, als die Voraussetzungen für eine Wahrung des Qualitätsgebotes gemäß § 2 Abs. 1 SGB V, die nach Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg im Rahmen stationärer Behandlung auch für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln ausreichen sollten.
Erforderlich wäre hierfür nur, dass die Behandlung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und den medizinischen Fortschritt berücksichtigt. Nach der Rechtsprechung des BSG sind die Vorgaben des § 2 Abs. 1 SGB V gewahrt, wenn „über Qualität und Wirksamkeit der Behandlungsmethode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Als Basis für die Herausbildung eines Konsenses können alle international zugänglichen einschlägigen Studien dienen; in ihrer Gesamtheit kennzeichnen sie den Stand der medizinischen Erkenntnisse." (BSG vom 21. März 2013, Az. B 3 KR 2/12 R).
Würde sich der zulassungsüberschreitende Einsatz von Arzneimitteln im Krankenhaus nur nach den §§ 137c, 2 Abs. 1 SGB V richten, hätte dies für Krankenhäuser folgende Vorteile:
- Der Einsatz des Arzneimittels außerhalb der Zulassung wäre auch zur Behandlung von nicht unmittelbar lebensbedrohlichen Erkrankungen zulässig.
- Es käme nicht darauf an, ob eine andere (zugelassene) Therapie verfügbar ist.
- Die Gabe des Arzneimittels wäre auch dann zulässig, wenn noch keine klinischen Studien der Phase III vorliegen oder die Zulassungserweiterung bereits beantragt wurde. Es genügt, wenn der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse gewahrt wird. (Es ist zwar streitig, welche Anforderungen an die Datenlage zu stellen sind. Das BSG hatte sich noch nicht zu der Frage geäußert, was „wissenschaftlich einwandfrei durchgeführte Studien" sein sollen. Die Instanzgerichte ließen allerdings auch Studien von niedrigerer Evidenz ausreichen, wenn Studien der höchsten Evidenzklasse nicht vorlagen; vgl. LSG Baden-Württemberg vom 27. Januar 2012, Az. L 4 KR 2272/10.)
2. Revisionsverfahren - Sachverhalt
Das BSG hatte nun am 13. Dezember 2016 über die Revision gegen eine Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 17. November 2015, Az. L 11 KR 1116/12, zu entscheiden. Das LSG hatte der Klage einer Patientin auf Gewährung einer intravenösen Immunglobulintherapie (IVIG) zur Behandlung eines systemischen Lupus Erythematodes (SLE) stattgegeben. Die Patientin war jeweils an aufeinanderfolgenden Tagen in der Institutsambulanz eines Universitätsklinikums behandelt worden (eine stationäre Behandlung erfolgte nicht).
Das LSG hatte zunächst festgestellt, dass die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nicht vorlagen. Zwar ging es um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung und es war auch keine andere Therapie verfügbar. Allerdings fehle es an der letzten Voraussetzung für einen Off-Label-Use, der hinreichenden Erfolgsaussicht aufgrund der bestehenden Datenlage. Zwar hatte das LSG keine Zweifel an der Wirksamkeit der Behandlung mit IVIG, da die Patientin seit Beginn der Behandlung beschwerdefrei war. Nach der Rechtsprechung des BSG könne jedoch von einer hinreichenden Erfolgsaussicht nur dann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt wurde und die Ergebnisse einer Prüfung der Phase III veröffentlicht wurden oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens Erkenntnisse veröffentlicht wurden, die denen einer Prüfung der Phase III ebenbürtig sind. Trotz einer entsprechenden Empfehlung in den einschlägigen Leitlinien hielt das LSG diese letzte Voraussetzung für nicht erfüllt.
Das LSG wandte jedoch § 137c SGB V in der ab dem 23. Juli 2015 geltenden Fassung an. Der Gesetzgeber hatte zum 23. Juli 2015 den folgenden Absatz 3 neu in die Vorschrift aufgenommen:
„Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Entscheidung nach Abs. 1 getroffen hat, dürfen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden, wenn sie das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Dies gilt sowohl für Methoden, für die noch kein Antrag nach Abs. 1 Satz 1 gestellt wurde, als auch für Methoden, deren Bewertung nach Abs. 1 noch nicht abgeschlossen ist."
Das LSG behalf sich zunächst damit, die Behandlung der Patientin in der Institutsambulanz als teilstationäre Behandlung einzuordnen. Dies begründete das LSG mit der höheren Behandlungsintensität und der regelmäßigen, jeweils mehrere Tage hintereinander erfolgenden Behandlung. Die Behandlung mit IVIG sei einer Dialysebehandlung vergleichbar. Damit kam das LSG zur Anwendbarkeit des § 137c Abs. 3 SGB V, der eine Krankenhausbehandlung – also stationäre oder teilstationäre Behandlung – voraussetzt.
Die Behandlung mit IVIG qualifizierte das LSG als neue Behandlungsmethode, weil sich die Behandlung nicht auf die Verordnung eines Arzneimittels beschränkte, sondern ihr ein bislang noch nicht allgemein anerkanntes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde lag.
Die Voraussetzungen des § 137c Abs. 3 SGB V hielt das LSG für erfüllt. Insbesondere habe die Behandlung mit IVIG das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsmethode, da hiermit – so auch die Definition des Gesetzgebers in der Gesetzesbegründung – die Erwartung verbunden war, dass aufgrund des Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse für die Patientin invasivere oder nicht erfolgreiche Methoden ersetzt werden könnten und eine effektivere Behandlung möglich wäre. Das LSG stützte sich dabei auf die vorliegenden Fallberichte, Fallserien und nicht randomisiert-kontrollierten klinischen Studien.
3. Revisionsverfahren - Entscheidung des BSG
Das BSG hat nach dem bislang vorliegenden Terminsbericht Nr. 50/16 die Entscheidung des LSG nicht nur aufgehoben und die Klage der Patientin abgewiesen, sondern zugleich die Gelegenheit genutzt, einige grundsätzliche Fragen zum Off-Label-Use zu beantworten.
Das BSG folgte dem LSG, soweit dieses die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use für nicht erfüllt hielt. Im Gegensatz zu dem LSG war das BSG aber der Auffassung, dass die Patientin gar nicht an einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Krankheit litt. Das LSG hat hatte dies noch bejaht.
Anschließend stellte das BSG fest, dass es sich bei der Behandlung mit IVIG nicht um eine neue Behandlungsmethode im Sinne des § 137c SGB V handelt. Der Terminsbericht enthält hierfür keine Begründung, sondern lediglich – wie es in vielen jüngeren Entscheidungen des BSG mittlerweile üblich ist – nur eine Behauptung: Das BSG behauptet, die Behandlung mit IVIG sei „keine neue Behandlungsmethode, sondern betrifft lediglich den zulassungsfremden Einsatz eines Arzneimittels." Es darf mit Spannung erwartet werden, ob das BSG hierzu in den Entscheidungsgründen mehr ausführt. Die Behauptung, der zulassungsfremde Einsatz eines Arzneimittels sei keine neue Behandlungsmethode, weil er lediglich den zulassungsfremden Einsatz eines Arzneimittels betreffe, dürfte nur einen Zirkelschluss darstellen. Den lästigen Umweg über die Subsumtion erspart sich das BSG. Tatsächlich stellt sich aber die Frage, warum die medizinische Überlegung, sich die Wirkungsweise eines Medikamentes auch außerhalb seiner Zulassung zur Behandlung einer anderen Krankheit zu Nutze zu machen, kein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept darstellen soll (dies wäre Voraussetzung für die Einordnung als Behandlungsmethode).
Anschließend fallen dann im Terminsbericht die wegweisenden Sätze:
„Ein Anspruch der Klägerin auf IVIG besteht schließlich auch nicht im Rahmen einer teilstationären Krankenhausbehandlung. Für die Arzneimittelversorgung gelten im Krankenhaus grundsätzlich keine von der vertragsärztlichen Versorgung abweichenden Maßstäbe."
Zu befürchten steht (die Entscheidungsgründe müssen noch abgewartet werden), dass das BSG mit dieser Entscheidung klarstellt, dass die Grundsätze des Off-Label-Use auch im Rahmen einer stationären Behandlung gelten. Gleichzeitig scheint das BSG die Auffassung zu vertreten, dass die Gabe von Arzneimitteln außerhalb der Zulassung grundsätzlich nicht als Behandlungsmethode im Sinne des § 137c SGB V anzusehen ist, so dass die Vorschrift auf Arzneimitteltherapien keine Anwendung findet.
4. Ausblick
Es steht zu erwarten, dass sich die Krankenkassen zukünftig auf diese Entscheidung des BSG berufen und für jeden zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln auf das Vorliegen der Voraussetzungen eines Off-Label-Use abstellen.
Von Bedeutung ist dies vorrangig für die Abrechnung von Zusatzentgelten. Allerdings haben einzelne Krankenkassen in der Vergangenheit auch im Zusammenhang mit primären und sekundären Fehlbelegungen einen Off-Label-Use behauptet und argumentiert, dass eine stationäre Behandlung nicht mit der erforderlichen Überwachung nach Gabe eines Arzneimittels begründet werden könne, wenn dieses zulassungsüberschreitend eingesetzt wird und die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nicht vorliegen.
Sollten die Entscheidungsgründe die in dem Terminsbericht vorgegebene Richtung bestätigen, kann für die Zukunft jedenfalls bei – vergütungsrelevanter – Gabe von Arzneimitteln nur empfohlen werden, die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use vorab zu prüfen. Der zulassungsüberschreitende Einsatz von Arzneimitteln wird dann im Regelfall nur noch zulässig sein, wenn die Wirksamkeit durch klinische Studien der Phase III bestätigt ist.
Eine Ausnahme gilt nur für unmittelbar lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankungen, für die es nach § 2 Abs. 1a SGB V genügt, wenn eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht und der zulassungsüberschreitende Einsatz des Arzneimittels „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf" mit sich bringt.