Mit der Entscheidung des EuGH vom 18.07.2013 (AZ C-426/11) könnte die bisherige Rechtsprechung zu Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge im Rahmen eines Betriebsübergangs (wieder einmal) auf den Kopf gestellt werden. Die konkreten Auswirkungen der Entscheidung des EuGH sind derzeit aber noch nicht absehbar.
Kontext der Entscheidung
Häufig finden sich in Arbeitsverträgen Klauseln, die auf Tarifverträge verweisen. Die Verweisung auch auf künftige, d.h. nach dem Vertragsschluss entstehende Änderungen des Tarifvertrages bezeichnet man als dynamische Verweisung (z.B. „Für das Arbeitsverhältnis gilt das Tarifvertragswerk der Branche XY."). Die eher seltene Verweisung auf einen ganz bestimmten Tarifvertrag in einer ganz bestimmten Fassung bezeichnet man als statische Verweisung (z.B. „Für das Arbeitsverhältnis gilt der Tarifvertrag XY vom 03.05.2011.").
Verweisungsklauseln entfalten dann ihre Wirkung, wenn der in Bezug genommene Tarifvertrag nicht ohnehin bereits aufgrund beiderseitiger Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG (bei Mitgliedschaft des Arbeitgebers im Arbeitgeberverband bzw. Haustarifvertrag und Mitgliedschaft des Arbeitsnehmers in einer Gewerkschaft) normative Wirkung entfaltet.
Früher legte das BAG dynamische Verweisungen als Gleichstellungsabreden aus. Dies bedeutete, dass alle Arbeitnehmer unabhängig von einer etwaigen Mitgliedschaft in der Gewerkschaft gleich behandelt werden sollen. Tritt der Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband aus, sollten die Tarifverträge nur noch statisch wirken, gleich ob sie aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel oder kraft Tarifbindung gelten. Dieses Ergebnis sollte auch im Fall eines Betriebsüberganges gelten.
Die neue Rechtsprechung des BAG (BAG 23.09.2009, Az. 4 AZR 331/08) stützt sich auf den Wortlaut des Arbeitsvertrages und lehnt die oben dargestellte weite Auslegung als Gleichstellungsabrede ab. Verweist der Arbeitsvertrag dynamisch auf einen Tarifvertrag, so gilt diese Verweisung auch im Falle eines Betriebsüberganges. Diese arbeitsvertragliche Klausel hat auch im Fall eines Betriebsüberganges nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB beim Erwerber Geltung. Sofern in den Arbeitsverträgen – wie meist – dynamische Verweisungen auf die jeweilige Fassung des Tarifvertrags enthalten sind, ist nach aktueller Rechtslage somit der Erwerber im Falle eines Betriebsüberganges „auf ewig" an die Tarifverträge einschließlich künftiger Änderungen gebunden, sofern das Arbeitsverhältnis nicht auf eine neue arbeitsvertragliche Grundlage gestellt wird.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH hatte über eine dynamische Verweisung auf einen Tarifvertrag in einem in Großbritannien spielenden Fall zu entscheiden. Einer der Bezirksräte Londons übertrug eine Abteilung auf ein Privatunternehmen, das wiederum diesen Betrieb auf ein zweites Privatunternehmen übertrug. Das zweite Privatunternehmen war der Auffassung, nicht an diejenigen Tarifverträge gebunden zu sein, die erst nach dem ersten Betriebsübergang abgeschlossen worden waren.
Der EuGH gab dem Privatunternehmen Recht. Die Richtlinie 2001/23/EG (Anm.: die im deutschen Recht durch § 613a BGB umgesetzt wird) bezwecke nicht nur einen Mindestschutz für Arbeitnehmer, sondern solle vielmehr einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer einerseits und denen des Erwerbers andererseits gewährleisten. Dem Erwerber müsse möglich sein, seine Interessen wirksam geltend zu machen und die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit beeinflussen können. Eine nationale Regelung stehe dem entgegen, wenn arbeitsvertragliche Regelungen, die der Veräußerer vereinbart habe, grenzenlos auf den Erwerber übertragen werden. Eine weiterhin geltende dynamische Verweisung auf ein Vertragswerk, dessen Inhalt der Erwerber nicht beeinflussen kann, dürfe es nicht geben. Es werde andernfalls damit die Vertragsfreiheit des Erwerbers verletzt.
Bedeutung der Entscheidung für künftige Betriebsübergänge
Wie die Entscheidung des EuGH im deutschen Recht konkret umgesetzt wird, ist derzeit nicht abzusehen. Bereits jetzt steht aber fest, dass für derzeit anstehende Betriebsübergange unkalkulierbare Risiken bestehen.
In der Literatur ist die Entscheidung zu Recht auf erhebliche Kritik gestoßen. Insbesondere der Einwand der Vertragsfreiheit des Erwerbers überzeugt nicht, da der Erwerber frei ist, den Betrieb – so wie er ist – zu erwerben oder eben nicht. Die dynamischen Verweisungen werden in aller Regel im Rahmen einer Due Diligence erkannt. Ferner müsse man die Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers ebenso berücksichtigen, der eine dynamische Verweisungsklausel (bewusst) abschloss.
Letztlich ist die Entscheidung in der Praxis aber zu respektieren. Es gibt mehrere denkbare Umsetzungsmöglichkeiten im deutschen Recht. Zum einen könnte eine Rückkehr zur „alten" Auslegung der dynamischen Verweisung als Gleichstellungsabrede sein. Ist der Erwerber nicht tarifgebunden, wirkt die dynamische Verweisung nur noch statisch. Hier stehen aber zum einen der klare Wortlaut der Klausel und zum anderen die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung des BAG entgegen. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, dass dem Erwerber seinerseits die Möglichkeit eingeräumt wird, auf die Tarifverhandlungen derjenigen Verbände einzuwirken, auf die „seine" Arbeitsverträge verweisen. Diese Umsetzung dürfte aber kaum realistisch sein. Eine recht einfach umzusetzende Lösung bestünde darin, im Falle des Betriebsüberganges die dynamische Wirkung der Arbeitsverträge zeitlich zu begrenzen und/oder die Voraussetzungen einer Änderungskündigung deutlich zu erleichtern.
Möglicherweise bleiben uns diese teilweise erheblichen Eingriffe in die bisherige Praxis aber erspart. Denn das tarifvertragliche System in England unterscheidet sich von dem in Deutschland. England kennt keine Tarifbindung, wie sie für Deutschland im Tarifvertragsgesetz geregelt ist. Ohne arbeitsvertragliche Verweisung können in England die Tarifverträge keine Geltung erlangen. Insofern kann mit guten Gründen argumentiert werden, dass die Entscheidung des EuGH die nach deutschem Recht dynamischen arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln nicht erfasst, sondern sich vielmehr in die bisherige Rechtsprechung zur kollektiven Geltung von Tarifverträgen eingliedert. Denn im Falle einer gesetzlichen Tarifbindung an die Tarifverträge aufgrund des § 3 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes (ohne zusätzliche arbeitsvertragliche Verweisung) ist seit jeher die Folge eines Betriebsübergangs, dass die Tarifverträge nur noch statisch wirken und künftige Änderungen unbeachtlich sind, wenn der Erwerber nicht selbst tarifgebunden ist.
Es könnte also auch alles beim Alten bleiben. Jedenfalls ist die Umsetzung der Entscheidung des EuGH in das nationale Recht mit Spannung zu beobachten.